S  drehte sich um Berlin
Festival zum 100. Geburtstag der Berliner S-Bahn

Donnerstag, 8. August 2024. „Steigen Sie ein in den Zug von Berlin nach Bernau. Mit Elektrizität! Endlich ungefährlich, erprobt!“ Pünktlich geht’s los am Stettiner Vorortbahnhof – pardon, Nordbahnhof – heißt der ja heute. Die geladenen Gäste dürfen auf hellen Holzbänken Platz nehmen, und im historischen Jubiläumszug zurückreisen in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. „Ziiiiisch“ machen die Druckluftbremsen. „Klack, klack, klack“, tönt es. „Das ist der Fahrmotor. Die Relais, die Stufen höher schalten“, erklärt Oscar vom Verein Historische S-Bahn fachmännisch. Der Sound der  Vergangenheit ist ein ganz besonderer.

Hauptberuflich steuert Oscar ICEs mit über 300 Stundenkilometern quer durchs Land. Vergangene Woche tauschte der junge Lokführer seinen blau-roten Dienst­blouson gegen eine alte Uniform und knipste mit einer kleinen Metallzange vergnügt Fahrkarten aus Pappe ab. „Herrlich wie der Wind durch die Fenster weht, wie früher!“, sagt ein Teilnehmer begeistert. „Ich kenne solche alten Züge noch aus meiner Kindheit“, erinnert sich ein anderer. „Man konnte die Türen während der Fahrt aufziehen und einfach auf dem Bahnsteig abspringen. Streng verboten war das, aber die Berliner haben ja bekanntlich nie Zeit. Das ist heute so und das war früher so.“


Auch Aurel Gröne, in alter Uniform, knipste wie früher Fahrkarten auf der Fahrt im historischen Zug. Alle Fotos: André Groth


Auch Emmeline und Mutter Manuela hatten eines der heiß begehrten Tickets für den Oldtimer ergattert.

Raus ins Jrüne jeht’s

Der Jubiläumszug ist mit vier Wagen unterwegs – Baujahr 1928 und 1938. „Ich bin `36 geboren, im Jahr der olympischen Sommerspiele. Für mich ist diese Fahrt deshalb sehr spannend“, meint ein Fahrgast. In der Holzklasse geht’s durch die Hauptstadt, erst durch den Tunnel, später vorbei an Lärmschutzwänden, Häusern und Kleingärten bis schließlich Bäume und Wiesen zu sehen sind. Kurz hinter Blankenburg winken Trainspotter auf dem Feld enthusiastisch: Mit riesigem Stativ und Kameras fangen sie die Jubiläumsfahrt ein: Genau vor 100 Jahren, am 8. August 1924, fuhr vom heutigen Nordbahnhof erstmals eine „Elek­trische“ nach Bernau: die „offizielle Geburtsstunde“ der S-Bahn.

„Wie modern sich das angefühlt haben muss im Jahr 1924, auch ohne elektronische Anzeigen mit Echtzeitinformationen“, schreibt der Berliner Schriftsteller David Wagner in seinem Geburtstagsgruß an die S-Bahn. „Seit hundert Jahren fährt die S-Bahn elektrisch (….), was Elektroautos gerade lernen, kannst du seit hundert Jahren.“ Statt zu dampfen und zu schnaufen, sind die neuen Stadtbahnen mit Gleichstrom unterwegs.


Im Rhythmus der Zwanziger: Beim Bahnhofsfest sorgten Orchester und Tanzkurs für Sommerlaune.


Auch die kleinen Gäste hatten ihren Spaß.

 

Moderne Technik in der Holzklasse

Im Führerstand des Jubiläumszugs steht Walied Schön vom Verein Historische S-Bahn und Lokführer bei der S-Bahn Berlin: „Wir sind unglaublich froh und erleichtert, dass alles rechtzeitig fertig geworden ist.“ Gemeinsam haben sie im Verein monatelang geschraubt, getüftelt, alte Unterlagen gewälzt und am Computer gesessen, damit der Oldtimer mit moderner Zugsicherungstechnik auf die Jubiläumstour gehen kann. Ein Bordcomputer unter der Holzbank überwacht jetzt die Fahrt und stoppt den Zug im Notfall automatisch.

Genauso wie vor 100 Jahren läuft jedoch alles wie am Schnürchen. Als der Jubiläumszug am rappelvollen Bahnsteig in Bernau eintrifft, winken die Fans und klatschen wild – als wäre er ein Popstar. Auch der achtjährige Hugo ist dabei: „Ich mag alles, was alt ist. Die alten Züge haben so viele Knöpfe und Hebel, die man drücken kann.“ Auf dem Kopf trägt er eine Eisenbahnermütze. „Die habe ich im Museum gekauft.“ Robert hat sich auch in Schale geworfen für den festlichen Anlass: „Das ist eine historische Reichsbahner-Uniform, von wann genau weiß ich nicht“, erklärt der Rentner. Und natürlich haben Fahrgäste im glamou­rösen Zwanziger-Jahre-Stil ihren großen Auftritt. Pailletten­kleider, Federn, Stirnbänder und Zigarettenspitzen sind auf dem Bahnsteig zu sehen, aber auch sommerliche Strohhütchen, Knickerbocker, Monokel und Einstecktuch. Emmeline und ihre Mutter Manuela aus Bernau tragen zum Retro-Outfit zwei große alte Lederkoffer. Was da wohl drin ist?

Gleich gegenüber gab es noch zwei Geburtstags-Überraschungen am Bahnhof: Kurz vor dem historischen Zug fuhr die S-Bahn der Baureihe 481 ein, die genau vor zehn Jahren auf
den Namen Bernau getauft wurde. Direkt nach der Ankunft des historischen Sonderzugs schickte die S-Bahn Berlin dann noch ein ganz besonderes Fahrzeug aufs Gleis: Ein Zug, der komplett mit zehn verschiedenen Fahrzeugdesigns der vergangenen 100 Jahre beklebt ist.


Erinnerungen, die bleiben: So einen schön geschmückten historischen Zug sieht man in Berlin nicht alle Tage.


Natürlich fehlte auch Kultrapper Romano nicht unter den Gästen. Er performte seinen Geburtstagssong „S-Bahn fahr’n“.

 

Swingen im Rhythmus der Großstadt

„Ich bin die Marie von der Haller-Revue! Im Tanzen bin ich ein Genie!“, klingt es eine Etage tiefer. Nicht nur auf dem Bahnsteig, auch auf dem Bahnhofsvorplatz sind die „Roaring Twenties“ angesagt. Gespielt werden Walzer und Schlager vom Brandenburgischen Konzert­orchester Ebers­walde. Nach dem Anschneiden der Geburtstagstorte swingen die Festival-Gäste im Takt der Zwanziger. „Quick, quick, slow – schnell, schnell, langsam.“ Zu Charleston und Lindy Hop fliegen Arme und Beine in die Luft. Beim Schnupper-Tanzkurs sind die neun­jährige Amelia und ihre Mutter dabei. „Wir sind aus Italien zu Besuch hier“, erzählt Mama Miriam. „Ich habe vor vielen Jahren in Berlin gewohnt – und freue mich, beim Festival dabei zu sein. Die S-Bahn gehört für mich zum Herz der Hauptstadt.“

Wer abends bei der großen Geburtstagsparty im BeachMitte weiterfeiern wollte, stieg in den Sonderzug Richtung Nordbahnhof oder fuhr mit der S2 zum Fest. Bands wie Westhafen, Mitsune oder Hitgirls sorgten auf dem sandigen Dancefloor für Stimmung. Als Kultrapper Romano seine Songs performt, wird es richtig voll. Natürlich darf auch „S-Bahn fahr’n“ nicht fehlen: „Das Ständchen hab ich der S-Bahn extra zum Geburtstag geschrieben, ist doch ein Liebes­beweis, oder?“, sagt er.

Seine besonderen Momente mit der S-Bahn? „Da gab es schon schräge Sachen. Zum Beispiel, als ich mal zwei aggressiven Typen begegnet bin. Da hab’ ich denen was vorgerappt. Die fanden das so cool, dass sie gleich mit mir abhängen wollten. War schwer, die wieder loszuwerden. Natürlich hab’ ich auch schon in der S-Bahn geflirtet, hatte schöne Dates. Hat sich aber verlaufen.“


Geschichten aus dem geteilten Berlin mit der Schauspielerin Sabine Weißhaar. Das Publikum lauschte gespannt.

 

Besondere Momente mit der S-Bahn

Noch mehr Konzerte und Sonderfahrten, aber auch Podcasts, Ausstellungen, Führungen, Filme, Installationen, Lesungen und vieles mehr gab’s an den anderen Festivaltagen: Wer wollte, konnte weitere besondere Momente aus der Geschichte der S-Bahn er­leben. Glückliche, traurige, aufregende. Im Tränenpalast erzählte Schauspielerin Sabine Weißhaar aus der Zeit der geteilten Stadt, als sich am ehemaligen Grenzbahnhof Friedrichstraße Menschen für immer trennen mussten. Oder vom 9. November 1989, als Lokführer Dieter Müller jubelnde Menschen­massen über die Grenze beförderte: „Ich hatte zum Schluss keinen Hut mehr auf, keinen Knopf mehr an der Jacke, ich sah aus wie ‚Schlumpi‘ und war mit Sekt bespritzt von ‚Hacke bis Nacke‘.“

| Kristin Lübcke